Die Bevölkerung darf den Schutz der Demokratie nicht an Justiz und Politik auslagern. Wir müssen jetzt anfangen, in Szenarien zu denken. Bevor es zu spät ist.
Ein Team aus Rechtswissenschaftlerinnen des "Verfassungsblogs" untersucht derzeit, welche rechtlichen Spielräume eine autoritär-populistische Partei ausnutzen könnte, wenn sie Mehrheiten gewinnt. Doch eine vorbereitete Justiz und Politik allein reichen nicht, argumentieren sie im Gastbeitrag: Die Gesellschaft ist der wichtigste Teil einer wehrhaften Demokratie.
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Zur Vorarbeit für eine antizipierende Zivilgesellschaft gehören Analysen, wie sie aktuell das Thüringen-Projekt des Verfassungsblogs vorantreibt. Es geht darum, in einer Art Testlauf Szenarien durchzuspielen, die zwar noch nicht eingetreten sind, aber bei AfD-Wahlerfolgen mit politischer und juristischer Plausibilität eintreten könnten.
Mit solchen Szenario-Analysen betritt die Rechtswissenschaft Neuland. Recht und Verfassung werden – abgesehen von wenigen Ausnahmen – bislang selten nach vorne, also zukunftsorientiert interpretiert. Aber das Thüringen-Projekt zeigt, dass es funktionieren kann. Konkrete Gefährdungslagen und Schwachstellen für den demokratischen Rechtsstaat wurden bereits identifiziert und die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit bislang ungeklärten Fragen angetrieben. Kürzlich konnte etwa nachvollzogen werden, was passiert, wenn eine autoritär-populistische Innenministerin den Verfassungsschutzpräsidenten beauftragt, gegen bestimmte oppositionelle Bündnisse vorzugehen. Diese Geschichten im Detail zu erzählen, kann der Zivilgesellschaft helfen, die Bedeutung und Tragweite eines bestimmten Schritts zu erfassen und die entscheidenden Institutionen, Personen und Momente zu identifizieren – damit sie zur Seite stehen kann.
Das anschaulichste Beispiel für dieses antizipierende Zusammenwirken von Rechtswissenschaft und Zivilgesellschaft findet sich in Israel. Dort gingen Tausende Menschen gegen die sogenannte Justizreform auf die Straße. Sie hatten erkannt, dass die scheinbar technische Frage, wie weit genau der Prüfumfang eines Gerichts reicht, um die es in der Reform unter anderem ging, alle etwas angeht. Solche Änderungen an Recht und Verfassung haben, so scheint es, nichts mit unserem individuellen Leben zu tun – bis sie es tun. Und dann ist es meist schon zu spät.
In Israel haben zahlreiche Rechtswissenschaftler:innen, wie etwa Tamar Hostovsky-Brandes, Menschen in ihre Häuser eingeladen, um ihnen zu erklären, was hinter den Plänen der israelischen Regierung steckt. Dabei konnten sie auf Erfahrungen aus Polen und Ungarn zurückgreifen. Anders als dort hat das zivilgesellschaftliche Bewusstsein für illiberale Schachzüge in Israel dazu geführt, dass das Regierungsvorhaben gesellschaftlich unter Druck geriet. Zu Beginn des Jahres hat der Supreme Court das Gesetz gekippt. Mit ihrem lautstarken Protest hat die israelische Zivilgesellschaft dem Supreme Court bei der Legitimation seiner Entscheidung den Rücken gestärkt.
So funktioniert ziviler Verfassungsschutz. Um das Erstarken illiberaler Akteur:innen und die Durchsetzung ihrer Vorhaben zu verhindern, muss sich auch in Deutschland die Zivilgesellschaft endlich vernetzen, informieren und an den entscheidenden Punkten auf die Straße gehen – so wie es nun Hunderttausende tun.