Bauernproteste und Bürgerräte: Die geschwächte Parteiendemokratie muss zeigen, ob sie sich lieber von ihren Gegnern oder ihren Verbündeten treiben lassen will.
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Zuerst zu den Protesten. Neu an ihnen ist die Verbindung von Interessenpolitik und Umsturzphantasien. Tatsächlich ist kaum eine Lobby so gut organisiert und politisch einflussreich wie die der Agrarindustrie. Diese Branche hat selbstverständlich Zugang zu den Räumen, in denen klassischerweise der politische Interessenausgleich verhandelt wird: Abgeordneten– und Ministerbüros, Parteigremien und Rathäuser. Gerade, weil sie dort Stammgäste sind, weil sie Teil der klassischen Politikbetriebsroutinen sind, ist ihre (teilweise) Hemmungslosigkeit nun so bemerkenswert. Die Bauernproteste zeigen der Parteipolitik: Selbst diejenigen, die man bisher für Mitspieler hielt, können jetzt plötzlich zu geifernden Gegnern werden. Dass sich ihnen obendrein Rechtsextreme anschließen und haufenweise Politikfrustrierte, und diese zusammen den Eindruck erzeugen, hier träume bereits ein großer Teil der Deutschen vom Umsturz – das macht den Umgang der Politik mit den Protesten umso schwerer.
Deshalb muss man das voreilige Einknicken der Koalition vor den Protesten, die beflissenen Solidaritätsbekundungen mehrerer Ministerpräsidenten und der Union, auch als Zeichen der Überforderung deuten: Mit ungehemmter Wut können sie nicht umgehen. Zumindest ein Teil der Politik hat ganz offensichtlich wieder Angst vorm Volk.
Hier kommen nun die Bürgerräte ins Spiel. Sie sind gewissermaßen der Versuch, die Bürgerinnen und Bürger schon einzubinden, bevor sie überhaupt so wütend werden können. Sie zielen auf das Gegenteil der Enthemmung.
Das ganze Bürgerrat-Format ist auf Domestizierung ausgelegt. Schnitzelextremisten und Hafermilch-Missionare lernen über Monate in stundenlangen, moderierten Sitzungen die bittere Notwendigkeit eines Interessenausgleichs. Sie bohren die dicken Bretter, aus denen nach Max Weber Politik besteht, mal zur Probe selbst ein bisschen an. Wer das selbst erlebt hat, wird in Zukunft weniger auf faule Kompromisse und die Politik als Ganzes schimpfen. "Ich verstehe jetzt erst, wie kompliziert Politik ist", ist einer der Sätze, die Bürgerratsmitglieder am häufigsten sagen, und anwesenden Politikern huscht dann oft ein erleichtertes Lächeln übers Gesicht. Wer einen Bürgerrat durchlaufen hat, vor dem muss wohl niemand mehr Angst haben.
Die kritische Interpretation wäre: Der Bürgerrat ist die aufwändigste Politik-Volkshochschule des Landes. Der Staat gibt bis zu drei Millionen Euro aus, um 160 Menschen in ein politisches System einzulernen, das für sie sonst offenbar nicht mehr nachvollziehbar ist.
Man kann es auch positiver sehen: Der Bürgerrat ist für viele auch deshalb eine erhebende Erfahrung, weil sie hier Politik nicht nur konsumieren, sondern selbst machen. Und der Parlamentarismus zeigt durch deren Einberufung, dass er veränderungsbereit ist. Die Bürgerräte sind ja überhaupt nur deshalb nötig, weil viele Menschen heute mit Parteien und Ortsvereinen nichts mehr anfangen können. Weil die natürlichen Orte der politischen Meinungsbildung, sei es in Parteien, am Stamm- und Küchentisch, in Vereinen oder den Medien, offenbar dysfunktional geworden sind, braucht es nun den künstlich hergestellten Ort Bürgerrat.
Deshalb ist es so fatal, dass die wichtigste Oppositionsfraktion, die Union, den Bürgerrat mittlerweile ablehnt, obwohl sie ihn der vergangenen Legislaturperiode noch selbst gefördert hat. Man habe schließlich schon eine gewählte Volksvertretung, argumentiert die Union. Das Instrument kann aber nur funktionieren, wenn alle demokratischen Parteien sich auf seine Ergebnisse einlassen, als Ampelgremium wäre der Bürgerrat bedeutungslos.
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Man stärkt die parlamentarische Demokratie nicht, indem man darauf beharrt, dass sie so bleiben muss, wie sie ist. So schiebt man die Verantwortung schlicht den Bürgern zu: sollen sie sich doch bitte ändern, damit es weitergehen kann wie bisher. Das ist demokratiepolitische Besitzstandswahrung.
So entmutigt man auch diejenigen, die bei der Demokratie mitmachen und sie verbessern wollen. Sei es in Bürgerräten oder sonstigen konstruktiven Partizipationsformen. Und indirekt belohnt man – wie jetzt bei den Bauern – jene, die sich gerade nicht zügeln, sondern ihre Interessen mit der destruktiven Wut auf das politische System als Ganzes aufladen. Hemmungslosigkeit lohnt sich, wäre die Botschaft. So stärkt man die Gegner der Demokratie statt ihre Verbündeten.