Interne Dokumente der Senatsverwaltung für Kultur, die dem rbb vorliegen, zeigen, dass sich der Berliner Kultursenator Joe Chialo (CDU) in der Auseinandersetzung um das Kulturzentrum Oyoun in der Neuköllner Lucy-Lameck-Straße über Warnungen seiner eigenen Behörde hinwegsetzte, um dem Kulturzentrum bereits in Aussicht gestellte Fördermittel zu entziehen. Zuerst berichtete die Zeitung "nd".
Oyoun war nach einer Veranstaltung des Vereins "Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost", einem Israel-kritischen Verein von Jüdinnen und Juden in seinen Räumlichkeiten am 4. November 2023 in die Kritik geraten und des Antisemitismus beschuldigt worden.
Schon vor der Veranstaltung, am 25. Oktober, ließ Chialo internen Dokumenten zufolge prüfen, ob Oyoun (Kultur NeuDenken gUG) Fördergelder gestrichen und bereits ausgezahlte Gelder zurückverlangt werden könnten.
Auf eine parlamentarische Anfrage der Abgeordneten Manuela Schmidt (Die Linke) [parlament-berlin.de] vom 7. November, welche Veranstaltungen eine Prüfung der staatlichen Zuwendung veranlasst hätten, antwortete der Kultursenat mit zwei Angaben: Eine Veranstaltung unter Mitwirkung von "Palästina spricht" am 11. Mai 2022 und die "Trauer- und Hoffnungsfeier" der "Jüdischen Stimme für gerechten Frieden in Nahost e.V.", am 4. November 2023. "Diese Veranstaltungen gaben Anlass zur Prüfung der Zuwendung an die Kultur NeuDenken gUG", antwortete die Senatsverwaltung.
Am 7. November lag das Ergebnis der Prüfung bereits vor. Die kam allerdings zum Ergebnis, dass "kein antisemitisches Agieren des Oyoun", erkennbar sei.
"Die vorliegenden Sachverhaltsinformationen bieten nach rechtlicher Einschätzung aktuell keine Grundlage zum Widerruf oder zur Rücknahme der bereits beschiedenen Zuwendung", heißt es. Außerdem sei keine zweckwidrige Mittelverwendung ersichtlich, die zu einer Rückforderung von Fördermitteln führen könnte.
Seit der Gründung des Oyoun 2020 gab es bereits mehrere Situationen, in denen die damals noch linksgeführte Kulturverwaltung unter Klaus Lederer die Absage von Events mit Palästina-Bezug gefordert hatte. "Die "Jüdische Stimme" unterstützt laut ihrer Satzung die BDS-Bewegung.
Oyoun wurde bereits von der vorangegangenen Hausleitung unter Klaus Lederer (Die Linke) mehrfach darauf hingewiesen, dass öffentlich finanzierte Räume nicht an Organisationen zur Verfügung gestellt werden dürfen, welche die Existenz Israels als jüdischen Staat delegitimieren", antwortete die Senatsverwaltung für Kultur auf Anfrage des rbb am 15. November.
BDS steht für "Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen" und ist eine internationale Bewegung, die Menschen dazu aufruft, Unternehmen und Institute, denen BDS nachsagt, "Israels Politik der Besatzung, Kolonisierung und Apartheid" zu unterstützen, zu boykottieren. Sie fordert zudem internationale Sanktionen gegen Israel.
Klingt erstmal nicht antisemitisch
Nachdem sich aus der internen Prüfung der Veranstaltung mit der "Jüdischen Stimme" keine sachliche Grundlage für einen Förderstopp ergeben hatte, blieb ein anderer Weg, um einen Fördermittelstopp zu erwirken: "Ein Widerruf der Inaussichtstellung wäre die einzige Möglichkeit für den Senat, die Förderung nicht auszuzahlen", heißt es weiter in der Prüfung.
Am 8. November wurde eine zweite Prüfung von Chialo veranlasst. Diesmal galt es zu prüfen, ob und wie die Fördergelder für das Jahr 2024 nicht ausgezahlt werden könnten. Dabei sei es laut einer E-Mail einer Mitarbeiterin der Senatsverwaltung für Kultur vom 9. November relevant für die rechtliche Prüfung, ob die Förderzusage 2019 postalisch oder per Mail versandt wurde. Denn ein Versand per E-Mail würde es der Senatsverwaltung ermöglichen, die Inaussichtstellung zu widerrufen.
Ein Argument, das später auch vor Gericht aufging. Auch wenn das Verwaltungsgericht Berlin seine Einwände hatte: "Ob es guter Stil einer Behörde wäre, sich bei einem als Zusicherung formulierten Text darauf zu berufen, die namentlich benannte Person, die den Text elektronisch schlusszeichnete, habe dadurch – anders wenn sie eigenhändig schlussgezeichnet hätte – die für die Wirksamkeit nötige Schriftform nicht gewahrt, muss dahinstehen, weil schlechter Stil sich nicht über das Gesetz hinwegsetzen kann", heißt es im Beschluss. Den Rechtsweg hat Oyoun bislang trotzdem erfolglos beschritten.
Am 14. November wurde auch die zweite Prüfung abgeschlossen, die befand: Es wäre möglich, die Projektförderung für Oyoun für 2024 und 2025 einzustellen. Aber nur, wenn das Projekt aufgrund geänderter Förderkriterien neu ausgeschrieben wird.
Genau diesen Weg ging ab diesem Moment die Senatsverwaltung. Kultursenator Joe Chialo entschied sich, die Förderung einzustellen: Am 17. November erteilte der Kultursenator persönlich den Auftrag, ein neues Betreiberkonzept für den Kulturstandort Lucy-Lameck-Straße zu erstellen, das dann als Grundlage dafür dienen sollte, die Oyoun-Förderung zu streichen.
"Die Aussage des Oyoun, dass dies aufgrund einer Veranstaltung der "Jüdischen Stimme" passiert, ist nicht zutreffend", antwortete die Pressestelle Chialos auf Anfrage von rbb|24 im November. Auch jetzt beharrt die Senatsverwaltung für Kultur auf dieser Position. "Die Förderung ist zum Jahresende 2023 regulär ausgelaufen", teilte die Pressestell dem rbb am Mittwoch mit. Von Antisemitismus-Vorwürfen gegenüber dem Oyoun wollte man jetzt nichts mehr wissen.
Die internen E-Mails zwischen der Hausleitung und den Mitarbeitern der Senatsverwaltung sowie die Dokumente, die dem rbb vorliegen, zeugen allerdings vom Gegenteil. Der Entzug der Förderung über einen juristischen Schachzug erfolgte erst, nachdem andere Wege scheiterten, indem man den Prüfungsrahmen erweiterte.
Zudem ignorierte Chialo dabei Warnungen seines Hauses vor einer Einschränkung von Grundrechten. Würde die Förderung des Oyoun eingestellt werden, wäre die Senatsverwaltung für Kultur aller Voraussicht nach mit der Frage konfrontiert, inwieweit die Entscheidung im Zusammenhang mit den jüngst getroffenen Äußerungen zu den aktuellen Geschehnissen in Nahost stünde, heißt es im Dokument.
Es könnte der SenkKultGZ angelastet werden, dass sie die Grenze des öffentlich Sagbaren bzw. Darstellbaren in unzulässiger Weise zulasten der Meinungsfreiheit einenge", heißt es im Prüfbericht weiter.
"Grundrechtliche Schutzgedanken waren für die Frage der Förderung im Jahr 2024 nicht ausschlaggebend", antwortete am Mittwoch die Pressestelle des Hauses ohne auf die internen Warnungen einzugehen. "Wie auch der erste Prüfvermerk zeigt, stand das Oyoun im Rahmen ihrer Förderung bei der künstlerischen Arbeit unter dem Schutz der individuellen Grundrechte. Eine Förderablehnung führt hingegen nicht zur Einschränkung von Grundrechten."
Ein bürokratischer Trick, findet Louna Sbou, Leiterin des Oyoun. "Nachdem ein vom Senator in Auftrag gegebenes Gutachten, bzw. juristische Prüfung ergab, dass Antisemitismus bei uns im Haus nicht auffindbar war, erscheint es mir, dass der Kultursenator aus politischen oder emotionalen Gründen einen bürokratischen Trick erfand, um unsere Existenz zu zerstören", sagt Sbou dem rbb.
"Ministerielles Handeln ist grundsätzlich politisch", antwortet die Sentasverwaltung für Kultur dem rbb, um aber direkt erneut zu betonen: "Allerdings ist die Förderung des Oyoun regulär zum 31. Dezember 2023 ausgelaufen."
Dabei drängen sich Ähnlichkeiten mit der Fördermittel-Affäre um Bildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) [tagesschau.de] auf. Aus E-Mails ihres Ministeriums ging hervor, dass jemand an hoher Stelle im Hause um Prüfung gebeten hatte, inwieweit Aussagen eines Protestbriefs von Hochschullehrenden strafrechtlich relevant sein und ob das Ministerium als Konsequenz Fördermittel streichen könnte.
Der Fall um das Oyoun hat zudem international Aufmerksamkeit erregt, da hier erstmals staatliche Förderung wegen eines Antisemitismus-Vorwurfs eingestellt worden sei. Die "New York Times" etwa spricht von Cancel Culture und einer "Bedrohung der deutschen Reputation als Hort künstlerischer Freiheit".
Wir haben eine Reputation als Ort künstlerischer Freiheit?
Eher verhalten ist im Vergleich die Kritik aus der Opposition. Aus der Stellungnahme der Betreiberinnen des Oyoun würden sich zahlreiche Fragen an den Kultursenator ergeben, sagt die stellvertretende Fraktionsvorsitzende der Linke, Manuela Schmidt, dem rbb. "Diese werde ich nach der Sommerpause im Kulturausschuss aufrufen und den Senat auffordern, uns die Sachlage darzulegen."
Von besonderem Interesse sei dabei der Erhalt des Kulturzentrums mit seiner sehr vielfältigen und diversen Ausrichtung für dekoloniale, queerfeministische und migrantische Sichtweisen, sagt Schmidt. "Grundsätzlich erhoffe ich mir eine Vorbildfunktion von Kultur und Politik für eine wertschätzende und offene Kommunikation und Debattenkultur. Hierfür müssen beide Seiten aufeinander zugehen."
Die Versuche des Oyoun auf Joe Chialo zuzugehen, stießen laut Angaben des Kulturzentrums allerdings auf Ablehnung, was auch in den internen Dokumenten der Verwaltung thematisiert wird.
"Von Relevanz wird dabei auch sein, dass der ZE [Zuwendungsempfänger Oyoun; Anm. d. Red.] auf die Kritik stets öffentlich wirksam Stellung genommen hat, gemachte Angaben klarstellte bzw. konkretisierte und sich zum Austausch und Diskussion bereit erklärte, während der Senat nach Angaben des ZE das Gespräch sechs mal ablehnte", heißt es in der internen Prüfung.
Die Zukunft des Oyoun scheint also nur schwer in offener Kommunikation entschieden werden zu können. "Der Kulturstandort soll auf Grundlage neuer Förderkriterien neu ausgeschrieben werden", antwortete die Senatsverwaltung dem rbb. Natürlich stehe es dem Oyoun frei, sich erneut auf eine Förderung zu bewerben, heißt es weiter.
Die Vermutung liegt aber Nahe, dass nach dem Aufwand von Joe Chialo und der Senatsverwaltung für Kultur, um dem Oyoun die Fördermittel zu entziehen, eine Neubewerbung für Sbou und ihr Team kein leichtes Spiel sein wird.